Gleich gültig
Malerei von Karl Rusche und Christoph Seidel
Städtische Galerie Am Abdinghof
27. April – 8. Juni 1997
Eröffnungsrede von Dr. Andrea Wandschneider
Die Künstler genießen heute eine Freiheit, wie es sie kaum je zuvor gegeben hat. Man „darf“ am Ende einer 100jährigen Moderne wieder fast alles: man darf informell oder expressionistisch malen, minimalistisch, tachistisch oder konstruktivistisch. Auch die Realisten unter den Zeitgenossen finden wieder Beachtung – freilich nur solche, die über jeden Verdacht des Reaktionären erhaben sind.
Diese unerhörte Freiheit, die die Künstler in ihrem schöpferischen Tun heute genießen, scheint aber auch zu ängstigen. Denn, so muß sich der einzelne fragen, wenn ich alles tun kann, wie oder was soll ich da tun? Da es keine Stile mehr gibt, keinen festgefügten Bildbegriff, geschweige denn eine ästhetische Norm, innerhalb derer sich der Künstler bewegen kann, ist die Orientierung ungleich schwerer geworden. Es herrscht ein verwirrender Pluralismus, der am Ende den Künstler auf sich selbst zurückwirft. Er muss sein Inneres erforschen und zwar aus dem Bewusstsein von Gegenwart. Und dies ist eine gewaltige Herausforderung.
Denn was uns gegenwärtig scheint, ist in Wahrheit ein komplizierter Wirklichkeitsapparat, der sich jeder interpretativen Inbesitznahme, jeder symbolischen Auslegung entzieht. Just darin gründeten ja alle historischen Stilbildungen – in der Fähigkeit zur inhaltlichen Formalisierung und symbolischen Interpretation der Welt. Wie aber sollte heute eine Deutung der Welt gelingen, die sich immer stärker partikularisiert und dynamisiert, in der sich die Gegenwart in die Zukunft ausdehnt und die Zukunft die Gegenwart vereinnahmt, in der die Realitäten längst austauschbar geworden sind gegen jederzeit abrufbare Simulationen.
Aber gerade in einer solchen Welt, in einer solchen Zeit ist der Künstler beispielhaft gefordet, als Quelle produktiver Phantasie und Irrationalität für unsere seelische Selbstvergewisserung zu sorgen. Er ist mehr denn je aufgerufen, uns in der kaum fassbar sich verändernden Wirklichkeit die Geltung von bleibenden Gesetzen, von Identitäten sichtbar zu machen, und darüber hinaus noch unsere Defizite an Spiritualität und Anschauung auszugleichen.
Dies ist kein leicht zu erfüllender Anspruch, der sich fatalerweise mit einer – fast möchte man sagen - grotesken Erwartung verbindet: dass nämlich das zeitgenössische Werk etwas Neues, bisher noch nicht Gesehenes hervorbringen muss. Der Begriff, der heutzutage über die Zulassung eines Oeuvres zur Kunstdebatte entscheidet, heißt „Innovation“. Diese Hochschätzung der Innovation gibt sich radikal freiheitlich, bedeutet jedoch in Wahrheit ein Verbot, an Traditionen, an überlieferte Inhalte anzuknüpfen. Dass die Kunst- und Stilgeschichte zum Steinbruch geworden sei, aus dem sich die zeitgenössische Malerei hemmungslos bediene, beklagte unlängst ein prominenter Kunstkritiker an ebenso prominenter Stelle. Die zeitgenössische Kunst hätte keine Kraft und Phantasie mehr, neue Selbstentwürfe hervorzubringen und brächte sich stattdessen mit Revivals und déjà-vues über die Runden. Wie aber, so ist zu fragen, könnte denn eine solche geforderte „neue Avantgarde“ am Ende unseres Jahrtausends aussehen?
Nachdem – um im Medium der Malerei zu bleiben – die Moderne alle Facetten des figürlichen und Abstrakten durchgespielt hat, nachdem auch die Felder von Pop-, Concept- und Minimalart abgeerntet sind, das weiße Quadrat auf weißem Grund längst gemalt und damit das Bild als Darstellung ad absurdum geführt ist, nachdem bereits Leinwände durchlöchert, geschlitzt und vernagelt wurden – was bleibt da noch zu tun? Sämtliche Ideen und Erneuerungspotentiale scheinen erschöpft.
Und dennoch: Aller Endzeit zum Trotz gibt es immer wieder, immer noch Künstler, die zu einem eigenen bildnerischen Sprechen finden, zu einer Artikulationsweise, die höchst individuell und zugleich substanziell ist.
Nur diese Kunst vermag uns letztlich anzusprechen, die unser konkretes Dasein schöpferisch reflektiert statt sich in der selbstreferentiellen Attitüde eines bloß „Neuen“ zu gefallen. Nicht nach dem Grad der Innovation kann sich – wie ich meine – der Stellenwert eines zeitgenössischen Werkes bemessen, sondern nach der Überzeugungskraft seiner Botschaft.
Diese Ausstellung nun vereint zwei relativ junge Künstler, deren bildnerische Konzepte diametral entgegenstehen: hier eine Malerei, die auf die Wiedererkennbarkeit von Gegenständen setzt, dort ein rein abstraktes Vokabular. Aber so kontrovers die Ausgangspositionen auch sein mögen, in ihren Aussageintentionen stehen die Werke beider Künstler gleichwertig, gleichgültig nebeneinander.
Karl Rusche, 1961 in Soest geboren, studierte nach einer Steinbildhauerlehre und dem Zivildienst Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und erhielt bereits 1987, also noch während des Studiums, den Wilhelm-Morgner-Preis der Stadt Soest. Seit 1990 arbeitet er als freischaffender Maler mit einem Atelier auf Schloss Sassendorf. Rusche könnte man als einen Stillebenmaler bezeichnen, einen Vertreter des „nature morte“ im eigentliches Wortsinn. Denn neben Objekten wie Gläser, Bestecke, Statuetten und Gefäße bilden tote Tiere die Requisiten seiner Bilder. Dabei lassen sich hier in der Ausstellung zwei Gruppen unterscheiden: die der braungrundigen und der blaugrundigen Bilder. Sie repräsentieren als relative Einheit jeweils eine Schaffensperiode.
In der älteren, 1993/1994 entstandenen dunkeltonigen Arbeiten wirkt der Grund durch Einarbeitung von Sand oder Asche wie eine bröcklige, abtastbare Fläche. Es entsteht der Eindruck, als seien die sichtbaren Dinge wie durch Erosion freigelegt, gleichsam „wiedergefunden“. Nie erscheint bei diesen Stilleben nur ein einzelnes Objekt, sondern immer ein Objekt-Ensemble. 3 bis 5 Gegenstände werden miteinander kombiniert, jedoch in einer unvertrauten Weise: der Vogelflügel mit dem Portweinglas, das Ei mit der Fleischergabel.
Dabei gewinnt die jeweilige Konstellation für den Betrachter einen starken Erzählcharakter, obwohl konkret-sachlich nichts erzählt wird. Die Imagination wird gewissermaßen selbsttätig, man meint intuitiv, einen Sinn, ein Bedeuten dargelegt zu finden, etwas was sich nicht in Worte fassen lässt – es sei hier dennoch einmal versucht:
Aus ihrer Realisation zum rauhen Grund beziehen die Objekte den Charakter des Kostbaren und des Fragil-Zarten- ein Erfahrungswert, der jeweils in einem besonderen Motiv des Objekt-Ensembles kulminiert: eine blauschimmernde Weihnachtskugel, ein Ei, ein weißleuchtender Stein. In diesen Motiven ereignet sich jeweils anschaulich eine höchste Sublimierung gegenüber dem schroffen Grund, als würde hier die Materie an die Grenze ihrer Selbsttranszendierung gelangen. Was an den übrigen Objekten nur gebrochen, gewissermaßen verdorben auftritt, ist in dem einen aufleuchtenden Motiv in Reinheit eingefangen und damit das innerbildlich extremste Gegenmoment zum bröckelig-undurchdringlichen Grund gefunden.
So differenziert sich das Bild anschaulich in drei Seinsstufen: in die stumpfe lichtlose Materie des Grundes, gleichsam die Urschicht, sodann in eine Zwischenstufe des Fossilen, d.h. des vegetativen, Vergänglichen, Zerbrechlichen – objektiviert in den Relikten organischen Lebens (der Blüte, der Feder) sowie in den Gebrauchsgegenständen, und schließlich in eine höchste Sublimierung der Materie. Die Erzählkonstellation ist mithin eine legitim mythische: Die Freilegung der Spuren des Vergänglichen im Spannungsraum von Schöpfungsgrund und ideeller Vollendung. Dabei kommt dem Betrachter ein hohes Maß an subjektiver Anteilnahme zu. Und es ist wohl auch nicht übertrieben von einem Mitempfinden zu sprechen, das den Objekten gilt in ihrer Preisgegebenheit zwischen der Materie an sich und ihrer ideellen Transzendierung „zum Licht“.
Könnte man diese dunkeltonigen Gemälde als „Relief-Bilder“ bezeichnen, so die blauen Arbeiten als „Sphären-Bilder“. Aus dem abtastbaren, lastenden Grund ist eine imaginäre Sphäre geworden, ein kosmisches Blau von hoher suggestiver Kraft. Dieser stärkeren Tendenz des Grundes zum Imaginären entspricht umgekehrt eine größere Nähe des Objekts zum deutlich identifizierbaren Motiv – der Blumenstrauß, der Vogel, Figur, Stühle. Und mehr auch als bei den braunen Bildern liegt im Motivarrangement etwas Pointiertes, ja mitunter leicht Provozierendes (das junggeborene tote Hasenpaar, das mannshohe Sumpfgras auf dem Stuhltrio in dem Bild „Jenissei!“).
Aber dennoch schlagen diese Bilder nie ins Literarisch-Effektvolle um, weil der thematische Einfall – oder sagen wir: die Idee des Sujets – stets gebrochen wird durch eine bildliche Ambivalenzbestimmung sowohl des blauen Grundes wie der in ihm erscheinenden Objekte. So oszilliert der Fond des Bildes stets zwischen imaginärer Sphäre einerseits und senkrechter Wand bzw. Lauf- und Liegefläche andererseits. Für die Objekte bedeutet dies eine Unentscheidbarkeit zwischen der Möglichkeit des Stehens bzw. Lagerns auf dem potentiellen Boden und einem Schweben im Bild. Sie halten gleichsam die Mitte zwischen einer raumzeitlichen Festsetzung und einem Hinübergleiten in einem zeitlosen Raum. Daraus resultiert die Bedeutungsambivalenz der Objekte: Zur Seite des Betrachter wirken sie klein, puppenhaft, vielleicht auch lächerlich- gering, zur Seite der blauen Sphäre jedoch erscheinen sie als das zentral Wichtige. So fungieren die Objekte in ihrer Doppelstellung als Mittler zwischen der realen Welt des Betrachters und der rein imaginativen, unzugänglichen Sphäre. Dabei ist jedoch ganz wesentlich, dass sich die Objekte stets in einer Bewegungsnähe oder Spannung zur Bildmitte verhalten, diese aber nie besetzen. Käme es zu einer Identität von Gegenstand und Bildachse, dann würde aus dem Schweben als Vorgang eine Festsetzung zum blauen Grund. Gerade durch die spannungsvolle Asymmetrie der Objekte in der Fläche – bei dem Bild „Jenessi“ kommt es fast zu einer Zerreißprobe zwischen den Stühlen und der mittleren Bildachse -, durch jene Asymmetrie also behält der blaue Grund seine Autonomie: es kommt zu keiner souveränen Übereinkunft zwischen dem Hier- Stehen des Betrachters und der Präsenz jener Sphäre können zwischen dieser und dem Betrachter vermitteln.
So blickt denn der Betrachter gleichsam ironisch auf jene Fragmente des Lebens – die toten Hasen, Blüten und verspielten Figuren, erfährt sie als Momente eines ephemeren Spiels und erlebt zugleich, dass gerade dieser ironische Blick die Essentialität – oder sagen wir: letzte Wahrheit – des Lebens enthüllt. Einzig der ironische Blick auf die Vordergründigkeit des Lebens enthüllt dessen Zugewiesenheit auf ein wesenhaft Anderes, jene unergründliche Sphäre. Und jener Blick zwischen „Lachen und Weinen“ geht letztlich zusammen mit der Qualifizierung der künstlerischen Tätigkeit: das Schöpferische als ein Spiel, aber als ein höchst ernsthaftes, das zur Wahrheit vordringt. Und vielleicht ist dessen Thematisierung angesichts der Diktatur des Materiellen in unserer Zeit nur noch in solch ironisch gebrochener Weise möglich.
Ein ernstes Spiel treibt auch die Malerei von Christoph Seidel. Sie mutet zunächst unzugänglicher an, weil sie unserem Sehen die Orientierungswerte in Form von wiedererkennbaren Gegenständen entzieht. Von der abstrakten Malerei wird gern behauptet,
dass sie nur auf sich selbst verweise, insofern ihr bildliches Material keinen Bezug zur Realwelt herstellt. Dies ist aber nun keineswegs so zu verstehen, dass sie sich damit auf ein unverbindliches „l´art pour l´art“ zurückzieht. Ein abstraktes Werk setzt unser Auge gewissermaßen zurück in den Stand der Unschuld, erlöst es von allem Drang des Identifizierens und Wiedererkennens und gibt uns damit die Chance, zu einer reinen visuellen Erkenntnis zu gelangen, zu einer reinen Seherfahrung, die durch keine ikonographischen Zuweisungen getrübt ist.
Welcher Art ist nun die Erkenntnis, zu der uns die abstrakte Malerei Christoph Seidels führt? Vielleicht zunächst einige Daten zu dem Künstler selbst: Geboren wurde Seidel 1964 in Bad Rothenfelde; er studierte nach dem Zivildienst an der Westfälischen Kunstakademie Münster zunächst Malerei, dann Bildhauerei, erhielt 1992 den Akademiebrief mit Auszeichnung und arbeitet seither freischaffend mit einem Atelier in der „Kuckucksmühle“ in Hilter bei Osnabrück. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich allerdings als Pfleger geistig und körperlich schwerstbehinderter Menschen.
Nicht anders als sein Künstlerkollege Rusche verpflichtet sich Seidel zu einer höchst aufrichtigen, existenziell verbindlichen Malerei, wenn auch unter Einsatz anderer Mittel. Zunächst gewinnen auch hier – darin Rusches Arbeiten vergleichbar – die Bildhintergründe eine eigene, das Gesamtklima bestimmende Dimension: Die an sich plane Ebene rauht sich körnig auf, faltet sich, zeigt Nähte und Risse. Damit zusammen geht die malerische Behandlung – eine Variation aus Farbströmung und Farbfließung, aus Verdichtung und Ausdünnung der Verlaufsstrukturen. Diese – nennen wir sie einmal – „Primärfüllung“ des Bildrechtecks ist assoziativ offener als etwa der Farbfonds in Rusches Stilleben. Ihre Generalbestimmung liegt gewissermaßen in der Stiftung von Energie, von Geschehen, von Lebensentfaltung schlechthin. Und dieser ungebundenen all-over-Verströmung, in dem auch ein Moment der Überfülle liegt, sind nun, häufig an den Bildgrenzen einsetzend, kompakte Formflächen antithetisch entgegengesetzt.Dr. Andrea Wandschneider