Eröffnungsrede: zur Ausstellung
„Karl Rusche Gero Troike im Morgner - Haus“ Soest 2004
von Dr. Andrea Wandschneider, Leiterin der Museen und Galerien Paderborn

Morgner - Haus Soest
vom 5. Dezember 2004 - 9. Januar 2005

Karl Rusche Gero Troike im Morgner - Haus

Wer von Ihnen regelmäßig die Feuilletons unserer großen deutschen Zeitungen studiert, wird leicht feststellen, dass das Wort von der Krise der Kunst vehement und unaufhaltsam die Runde macht. Von "totem Müll" (Gunter Kunert) ist die Rede, von "Party- und Vernissagenkunst" (Daghild Bartels), von der "Überführung des Louvre ins Disneyland" (Eduard Beaucamp).

Die Moderne sei erschöpft, eine Avantgarde nicht in Sicht. Ja, daß Kunst vielleicht überhaupt nicht mehr möglich sei, daß sich die Kulturgeschichte mitsamt der Malerei vollendet habe, das stehe ernsthaft zu befürchten.

Freilich, vom Ende der Malerei war in der Geschichte der Kunst schon mehrmals die Rede. Gut anderthalb Jahrhunderte ist es her, seit Paul Delaroche angesichts der erdrückenden Beweislast der Erfindung der Daguerrotypie, der Frühform der Fotographie, ausgerufen hat: "Von heute an ist die Malerei tot!" 1920 traten die Dadaisten in Berlin unter dem Motto auf: "Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins." In den 60er Jahren malte Ad Reinhardt nach eigenen Worten "gerade die letzten Bilder, die überhaupt noch jemand machen könne". 20 Jahre später äußert Daniel Buren ganz offen, daß seine Streifen-Malerei als reine ldiotie verstanden werden will, das heißt als Verrat am Kodex der Malerei. In der letzten Documenta scheinen sich dann auch alle dunklen Prophezeiungen erfüllt zu haben: Unter den 150 Beteiligten war nur fünfmal die Malerei vertreten - dies gleiche einer Todesanzeige, war zu lesen. Nun, man mag in diesen Todesgesang einstimmen oder nicht - eines ist gewiß: Kaum jemals wurde soviel über Kunst reflektiert, theoretisiert und spekuliert wie in unseren Tagen. Künstler, Museumsleiter und Ausstellungsmanager sind ständig aufgefordert, über Stand und Fortgang der Kunst ihr Urteil abzugeben - Statements zum Jetzt, Prognosen für die Zukunft. Soviel Reden über die Kunst ist schon verdächtig, das heißt, verdächtig ist nicht das Reden selber sondern die merkwürdige Diskrepanz, die daraus hervorbricht. Denn steht nicht diesen anwachsenden Diskursen über die aktuelle Kunst eine wachsende Entfremdung gegenüber, eine Verunsicherung auf seiten des Rezipienten - oder nennen wir ihn ruhig den "Kunstgenießer" - ? Je gewaltiger das Wort der Fach- kompetenz, desto größer, so scheint es, die Einsamkeit des Betrachters vor dem Werk.

Er soll das Gesehene begreifen, einen Sinn ausmachen, aber er weiß, daß er sich dabei nicht mehr auf seine Wahrnehmung verlassen kann. Um die Gegenwartskunst zu verstehen, so hat man ihm gesagt, bedarf es der intellektuellen Unterstützung der Spezialisten, der ästhetischen Reflexion aus zweiter Hand. Arnold Gehlen war es, der schon in den 1960er Jahren den Begriff von der "Kommentarbedürftigkeit" der Moderne prägte: Ohne intellektuelle Anstrengung, ohne theoretisches Rüstzeug sei eine wirkliche Annäherung an ein zeitgenössisches Werk nicht möglich.

Zweierlei ist also geschehen: Die Kunst, mit der sich seit jeher das Kriterium der Vollkommenheit verband, wurde für bedürftig erklärt, eben "kommentarbedürftig", und der Betrachter für unmündig, visuell unmündig - ein doppelter Bruch.

Zweifellos ist das Problem komplexer, als es hier dargelegt werden kann. Jedoch meine ich, daß jede Debatte um Möglichkeiten und Zukunftsaussichten der bildenden Kunst, um ihren konkreten Stellenwert für den heutigen Menschen erst dann wieder fruchtbar sein kann, wenn man ihr das Potential zurückgibt, eine eigene Erfahrungs - dimension zu eröffnen, deren Sinn in dieser Erfahrung selbst liegt (und nicht von außen herangetragen werden muß). Das aber heißt auch, den Betrachter, für den das Werk letztendlich geschaffen ist, wieder in sein Recht zu setzen, seine visuelle Erkenntniskraft zu rehabilitieren.

Jean-Christophe Amman, vormaliger Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, hat es unlängst in einer öffentlichen Rede richtig gestellt: Weniger um eine Krise der Kunstwürde es sich handeln, als um eine Krise der Wahrnehmung. In der Tat: lm Zeitalter audiovisueller Massenmedien, globaler optischer Schaltungen und allgemeiner Beschleunigungstechnologien ist das ruhige geduldige Anschauen, das kontemplative Betrachten obsolet geworden. (Nach statistischen Erhebungen des bundesdeutschen Amtes für Museumskunde verweilt ein Museumsbesucher nicht länger als vier Sekunden vor einem Bild.)

Wir lebten in einer Zeit "ästhetischer Ungeduld", in der visuelle Reize nur noch "die Dauer und Subtilität von Elektroschocks" hätten, schrieb John Updike in einem Essay. Unser Auge wird täglich überspült von einer Flut optischer Eindrücke, und doch nehmen wir nichts mehr wahr; das heißt, wir sprechen dem Auge die Erkenntniskraft ab. Ein sinnliches Erkennen, ein Wahr-nehmen (man horche auf dieses Wort!), das nicht durch unseren Verstand, unseren Intellekt aufbereitet wurde, gilt uns nichts mehr. Und so auch nicht angesichts eines Werkes der bildenden Kunst.

Wir haben uns vollständig daran gewöhnt, daß zu jeder \/ernissage eine Fachkompetenz in das ausgestellte Oeuvre eines Künstlers "einführt"; daß uns Museumskuratoren mit dickleibigen Katalogen konfrontieren, um uns gedanken - schwer und wissensstark über das aufzuklären, was wir bildhaft sehen. Ich gehöre auch zu dieser Liga, die qua ihrer Profession und Funktion ständig über Künstler und ihre Werke das Wort erhebt. Wohin das schließlich führt, dieses fortwährende Reden über Kunst, das offenbarte die November-Ausgabe der "Kunstzeitung". Da wurde nämlich der Maler Dieter Asmus - bekannter Vertreter des Neuen Realismus in Deutschland - allen Ernstes gefragt, ob es überhaupt noch Sinn mache, "Kunst zu produzieren in einer Zeit, in der sämtliche Begriffe entwickelt seien". Hier wird aus der Attitüde der begrifflichen Souveränität und des rationalen Aufgeklärtseins heraus die Notwendigkeit künstlerischen Schaffens schlichtweg in Frage gestellt.

Ich sehe darin ein höchstes Alarmzeichen - und deshalb werde ich jetzt nicht interpretierend über die Bilder von Karl Rusche und Gero Troike sprechen, sondern die Gelegenheit nutzen, eine Art Plädoyer zu halten, ein Plädoyer für die Kunst als eine eigenständige Erkenntnisform neben der begrifflich-rationalen Erkenntnis. Daß Bilder, gute Bilder uns etwas ganz Bestimmtes liefern, das außerhalb dieses Mediums nicht zu bekommen ist, daß sie eine Zugabe an Erkenntnis und Wahrnehmung verheißen - dies gilt dem traditionellen Verständnis als unbezweifelbar. Kunst ist zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden, soweit wir kulturgeschichtliche Entwicklungen überblicken können, vom Menschen geschaffen worden. Dies läßt darauf schließen, daß sie notwendiger Ausdruck seiner Natur ist, Manifestation einer spezifischen Wesensveranlagung: lm Kunstwerk versichert sich der Mensch seiner selbst in einer sonst für ihn nicht faßbaren Weise.

Von hier aus gewinnt eine Frage eine zentrale Bedeutung - eine Frage, die wir uns nie stellen, weil der Sachverhalt so selbstverständlich scheint: Wieso gibt es die drei bildnerischen Artikulationsformen Malerei, Bildhauerei, Architektur? Warum werden seit jeher in allen Kulturkreisen Bilder geschaffen, Skulpturen, Bauwerke? Weil es genau drei Grunddispositionen des Mensch-Seins gibt, drei grundlegende existentielle Befindungen, auf die das Bild, die Skulptur, die Architektur jeweils spezifisch antwortet.

  1. Die Malerei: Sie setzt unter Vorgabe einer definitiv begrenzten Fläche die veränderliche, fließende, uferlose Wirklichkeit fest; sie bannt das ausschnitthafte, relative "Draußen" in eine visuelle Ganzheit. "Sich ein Bild machen", sagen wir - ich möchte mir von etwas ein Bild machen. Die Malerei entspricht diesem menschlichen Bedürfnis, sich der immer nur aspekthaften, flüchtigen Wirklichkeit in einem stillstehenden Bild zu vergewissern: In der Malerei machen wir uns ein Bild von der Welt.
  1. Die Architektur: Sie entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Behausung und Verortung in der Welt. Sie stiftet einen umgrenzten Raum und damit eine maßgebende Orientierung in alle Richtungen. lm künstlerischen Bauwerk findet der Mensch einen Sinnort.
  1. Die Skulptur: Sie eröffnet schließlich die Grundsituation eines ausgesonderten Gegenübers, eines Ich-Du-Dialogs. Das heißt, in der Begegnung mit der Skulptur erfährt sich der Mensch als Einzelner, als Individuum; konfrontiert mit einem anderen Individuellen vergewissert er sich seiner als personale Existenz.

Dies ließe sich freilich alles noch vertiefen - aber wir sollten zurückkehren zur Malerei, zum klassischen Medium des Bildes. Denn darum geht es ja in dieser Ausstellung. Die reine Malerei ist in der aktuellen Kunstproduktion, wie bereits erwähnt, ziemlich an den Rand gedrängt. Photographie und Video, Performance und Installationen, real life und Erdarbeiten, ja das Prozesshafte, Szenische schlechthin, bestimmen heute den Markt. Gleichwohl: das künstlerische Bild bleibt unverzichtbar wie unersetzlich und zwar aufgrund seiner ganz besonderen Sehbedingungen, die es für den Betrachter bereithält. Diese Sehbedingungen, die sich von allen anderen der sichtbaren Wirklichkeit unterscheiden, sind unlösbar verknüpft mit jener Instanz, der das Bild überhaupt seine Existenz verdankt: dem Medium, das heißt dem wie auch immer dimensionierten Malgrund.

Am Anfang jeder Malerei steht eine Fläche. Ohne eine vorgegebene Fläche ist Malerei nicht möglich. Sie ist Vorbedingung jeder malerischen Handlung - und zugleich mehr als das. So formulierte Oskar Schlemmer: "Die rechtwinklige weiße Leinwandfläche ist ein solch zwingendes Faktum, (daß wir nicht umhinkönnen,) die im Rechteck gegebene Grundform als das Maß für alle auf sie projizierten Formen zu nehmen.“

Anders gewendet: Malerei gründet in der schöpferischen Auseinandersetzung des Malers mit der Bildfläche als einer Setzung a priori. Alle Inhalte des Bildes - seien es nun Figuren, Gegenstände oder reine Farbflächen - leiten sich unmittelbar aus der Bildfläche ab. Das heißt, der Maler unterwirft sie einer Formung, deren Prinzipien nur unter der Bedingung der Bildfläche möglich sind. Die Bildfläche bzw. das Medium ist damit nicht bloß "Trägerin" sondern Seinsgrund aller im Bild erscheinenden Inhalte, wie umgekehrt diese Inhalte - gegenständlich oder abstrakt - nicht schon "an und für sich" gelten, sondern unlösbar mit der Bildfläche als ihren Seinsgrund verknüpft sind.

Das Bild als Bild ist demnach etwas anderes als die nennbare Summe all dessen, was "auf" ihm gemalt ist. Es repräsentiert eine Ganzheit, eine Totalität, die fundiert in der dialektischen Vermittlung von Gegenstand und Bildfläche, Inhalt und Medium. Beide Elemente schließen sich für das Sehen zu einer unauflöslichen und invariablen Einheit zusammen - zur Totalität des Bildes.

In dieser Totalität schneidet sich das vollendete Werk von allen relativen Bedingungen seiner Entstehung ab, es setzt sich autonom und gewinnt zeitüberdauernde Gültigkeit. Georg Lukács spricht in seiner Heidelberger Ästhetik vom Kunstwerk als einer "in sich abgeschlossenen und selbstgenügsamen Totalität, deren Grenzen das Maximum an innerer Erfülltheit bezeichnen". Mit anderen Worten: In einem künstlerischen Bild ist je das Äußerste erreicht, nichts kann ergänzend oder bereichernd hinzugefügt werden. Was sich mir erschließt, ist ein wesenhaft Totales, wie sie sonst so nie in der Realität gefunden werden kann. Ein Totales, eben weil das dort Erscheinende (die Bildinhalte) und das es Begründende (die Bildfläche) sich für das Sehen zu einer unauflöslichen Erfahrungseinheit zusammenschließen. Das heißt, der Logos des Bildes ist ein ursprünglich zeugender- oder wie Schelling es so schön ausdrückte: "Kunst ist aus einem Ursprung, der in ihr sich gegenständlich macht."

Sich eines solchen Logos', eines solchen Ursprungs zu vergewissern, eines vorausgegebenen Prinzips, das alles Seiende sinnhaft trägt und steuert - sich dessen zu vergewissern, und zwar nicht mittels theologischer und philosophischer Postulate, sondern in einem konkret-sinnlichen Erlebnis, das ist nur angesichts eines Bildes möglich. Nur vor einem Kunstwerk tritt der Mensch einer Welt gegenüber, die sich jeglicher Relativierung entzieht. Ein künstlerisches Bild ist eine absolute Setzung, es stiftet eine invariable Ganzheitsstruktur, indem alle Erscheinungsmerkmale sich herleiten aus einer anschauungsrelevanten Bezugsebene, der Bildfläche - sich herleiten und sich immer wieder auf sie zurückbeziehen.

Eine solche Ganzheitsstruktur läßt sich aber niemals denken, geschweige denn sprachlich fassen. Unser Begriff von Wirklichkeit ist relativ und an unser diskursives Denken gebunden. Was wir denken und was wir sagen, spielt sich in einem zeitlichen Nacheinander ab; das heißt unsere Sprache trifft ihre Unterscheidungen in der linearen Folge von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile. Das Bild aber steht vor uns in seiner Totalpräsenz, seine Botschaft wird in einem simultanen Akt der Wahrnehmung erfaßt. Jede Bildbeschreibung muß schon an dieser Diskrepanz scheitern, an der Diskrepanz zwischen verbaler Progression und bildlicher Simultanität. Auf eine Formel gebracht: Bildsprache und Wortsprache sind inkommensurabel.

Johann Wolfgang von Goethe nannte die Kunst "eine Vermittlerin des Unaussprechlichen". Damit deutete er an, dass die Kunst einen Bereich eröffnet, der jenseits begrifflicher Erkenntnis liegt, jenseits eines vorab Denkbaren. Das meint, die im Bild soaufscheinende Wirklichkeit ist nicht schon vorab irgendwo in unserem Bewußtsein, unserer Vorstellung abgelagert, sondern wird erst und nurzugänglich in der konkreten Wahrnehmung des Bildes. Wirklichkeitserfahrung über das Auge!

Und hier nun kommt abschließend der Künstler bzw. das künstlerische Tun selbst ins Spiel. In seinem berühmten Essay "Das Auge und der Geist" formuliert der französische Philosoph Maurice Merleau - Ponty folgende These: Das Sehen des Malers sei kein Blick auf ein Äußeres der Wirklichkeit, sei keine bloß physikalisch-optische Beziehung zur Welt. Auch läge die Welt nicht als Vorstellung vor ihm. Vielmehr werde der Malerin den Dingen geboren wie durch eine Konzentration, ein Zu - sich - Kommen des Sichtbaren - das Sehen des Malers sei eine fortwährende Geburt.

Solchermaßen würde sich das gemalte Bild eben nur in der Weise auf empirische Dinge, auf Momente der realen Welt beziehen - auf eine Landschaft, eine Figur etc. -, als es die Haut der Dinge sprengt um zu zeigen, wie die Dinge zu Dingen werden, und wie die Welt zur Welt wird.

Ohne Bilder keine Weltvermittlung! Poetischer hat es der Religionsphilosoph Georg Picht ausgedruckt: "lm Schein des Kunstwerks haben wir die Welt. Die Welt versinkt uns, wenn sie uns nicht mehr im Kunstwerk erscheint."

Dr. Andrea Wandschneider