Katalogtext zur Ausstellung
„Karl Rusche im Morgner - Haus“ Soest 2005
von Richard Gilgenmann, Kunsthistoriker und Kunsthändler

Morgner - Haus Soest
vom 5. Dezember 2004 - 9. Januar 2005

Nun sind es beinahe 15 Jahre her, als ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Werk von Karl Rusche machte. Noch heute habe ich dieses Bild vor meinen Augen, welches zum Ursprung einer wunderbaren Freundschaft mit dem Künstler führte. Eine brennende Kerze, gesehen aus der Vogelperspektive, deren Flammen den Horizont bilden und einen scheinbar unendlich grauschwarzen Raum beleuchten. Daneben liegen Messer und Gabel. Das Gemälde gehörte Sabine. Sabine war Kunsterzieherin und lebte in Werdohl. Ich lernte sie während meiner Studienzeit kennen, als ich mich noch ausschließlich für die Kunst der Altmeister begeisterte. Sie betrachtete und beschrieb mir das Bild in einer für mich bis dahin völlig fremden Art und Weise. Welche Bedeutung Raum und Gefühle in einer so karg an Attributen ausgestatteten Komposition für diesen Menschen haben konnte, wurde mir erst klar, als ich Sabines Wohnungstür hinter mir ließ und sich das Bild der brennenden Kerze fest in meinen Gedanken verankert hatte. Dieses Bild sollte für uns beide ein Schlüsselerlebnis werden. Für Sabine, weil sie ihr Verständnis für Zeit und Raum innerhalb ihres Lebens in diesem Bild deuten konnte und somit durch das Betrachten in Kommunikation mit dem Sehen und dem Fühlen gelangte; für mich weil sie und ihre Interpretation, das Bild selbst und sein Dasein meinen Horizont erweitern und mir die malerische Welt des Karl Rusche näher bringen sollte.

Lange ist es her, dass ich zum ersten mal das Licht dieser Kerze sah und Sabines Augen bei diesem Anblick leuchteten. Heute schreiben wir das Jahr 2004. Inzwischen ist Sabines Augenlicht erloschen, viel zu früh, doch ihr Bild leuchtet umso intensiver in meiner Erinnerung. Die Vanitas-Darstellung ist vor meinen Augen zu einer erlebten Allegorie der Zeit geworden.

Kurz nach diesem einschneidenden Erlebnis lernte ich den Künstler selber kennen und habe nun seit damals das Vergnügen, seinen Schaffensreichtum zu erkunden und das Glück, meine Sammellust zu befriedigen, indem ich ihm immer wieder einmal ein Bild aus seinem Atelier entringen konnte. Rusches malerische Welt physisch und gedanklich um mich präsent zu wissen, bedeutet für mich ein Privileg; die intime Stille, die die Aura seiner Bilder kennzeichnet, teilte ich höchstens mit den engsten Freunden und deutete sie mit ihnen gemeinsam. Bis zu dem Tag, als Rusche mir sein Vorhaben unterbreitete, gemeinsam mit seinem Malerfreund Gero in den Räumen des Wilhelm - Morgner - Hauses in Soest eine Ausstellung zu machen. Zu diesem Anlass bat er mich, einen Text für seinen Katalog zu schreiben. Noch nie musste ich mich zu dem Werk eines befreundeten Künstlers außerhalb meines Freundeskreises äußern. Wie schwer solch eine Aufgabe sein kann, empfindet man erst dann, wenn man ein leeres Blatt Papier und ein Schreibutensil vor sich auf dem Tisch liegen hat und versuchen soll, all das, was bis heute an Eindrücken im Kopf herumschwirrte, nun in Wörter zu fassen. Wie ernst Karl Rusche es mit seinem Anliegen meinte, wird erst dann deutlich, wenn man weiß welche Bedeutung der Ausstellungsort für den Künstler hat. 

Eine Präsentation in den Räumen des Wilhelm-Morgner-Hauses in Soest ist für Karl Rusche eine besondere Aufgabe, zumal er selber Träger des Morgner-Preises ist. Die gemeinsame Heimat schafft Parallelen zwischen den Künstlern, obwohl sie durch mehr als ein halbes Jahrhundert getrennt sind. Ähnlich wie der Expressionist verarbeitet Rusche auch Motive seiner Umgebung. Die weitläufige, scheinbar unberührte Landschaft, die heimische Tier- und Pflanzenwelt, die einfachen Dinge des täglichen Lebens sind die bevorzugten Themen mit denen er sich auseinandersetzt.

Doch anders als Morgner, der seinen malerischen Ausdruck durch den Einfluss der Expressionisten und vor allem durch seinen Lehrer Georg Tappert im Großstadtmilieu von Berlin fand, steuert Rusche mit Umwegen seine Laufbahn als Maler an. Die finanzielle Situation des Elternhauses erlaubte es ihm nicht, sich den Traum eines Kunststudiums zu erfüllen. Er entscheidet sich für eine Steinmetzlehre. Die Bearbeitung des Steins mit Hammer und Meißel erfordert schweren körperlichen Einsatz. Aus einem amorphen Körper entsteht mit schier unendlicher Geduld das erdachte Werk. Das im Werkprozess erprobte Durchstehungsvermögen führt schließlich auch zu der Lebensentscheidung, nach der Beendigung der Lehre etwas Neues, Anderes zu beginnen; das Kunststudium an der Akademie in Braunschweig.

Schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Maler fand Rusche zu einer ganz eigenen Bildsprache und einer unverwechselbaren Identität. Ich erinnere mich noch gut an eine seiner frühen Arbeiten, die ich während meines ersten Atelierbesuches betrachten konnte: Auf einer großen Leinwand ein bildfüllender Küchentisch mit breitem, energisch geführtem Pinselstrich, eingebettet in einen irrational wirkenden, grau angelegten Raum. Einen alltäglichen Gegenstand, den wir dauernd vor Augen haben, jedoch kaum bewusst wahrnehmen. Das unscheinbare Da- Sein des Tisches wird zum Gegenstand eines Bildes. Den im Winter zufällig am Straßenrand gefundenen toten Hasen benutzt Rusche als zentrales Motiv in einem Stilleben. In einem extremen Querformat liegt das altmeisterlich gemalte und förmlich mit dem Pinsel modellierte Tier ausgestreckt, isoliert, eingebettet in einen atmosphärischen Raum. Es scheint die Absicht des Künstlers zu sein, einen Hasen so zu malen, dass man geneigt ist, sein flauschiges Fell anzufassen oder gar zu streicheln, weiter noch: sich vorzustellen dass in seinen Adern noch warmes Blut fließt oder sogar Mitleid mit dem toten Wesen zu verspüren. Vielleicht wollte mir der Künstler mit diesem Bild zeigen, dass auch ein toter Hase in meinem Bewusstsein eine Existenzberechtigung verdient.

Tatsache jedoch ist, dass Rusche mit dieser Inszenierung den konkreten Gegenstand mit einem endlos scheinenden Hintergrund kombiniert und dadurch die Bedeutung des Dargestellten steigert. Die spärliche konzentrierte Komposition verführt den Betrachter dazu, mehr sehen zu wollen als das, was gemalt ist. Das ist die subtile Absicht des Künstlers. Der tote Hase hat keinen konkreten Halt im Bild, er wird hinterfangen von einer weiß gespachtelten Fläche, die wie eine Schneeverwehung wirken kann aber auch wie ein helles Universum.

Rusche hat sich intensiv mit den Lebenszyklus und der Anatomie von Tieren und Pflanzen beschäftigt. Teils in dramatischer teils in poetischer Weise konfrontiert er den Betrachter mit der Realität, dem erkennbaren Bildgegenstand und gleichzeitig der Irrealität, die durch den hinterfangenen Raum gebildet ist und führt uns zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Motiv. Gegenstand seiner Bilder kann ein totes Tier, eine Blume, ein Geigenbogen oder ein Silberbecher sein;  meist handelt es sich um Fundstücke. Für diese kleinteiligen, kontemplativen Bildkompositionen wählt der Künstler auch kleine und mittlere Formate, die leicht zu überschauen und zu erfassen sind.

Anders verhält es sich mit den Landschaftsdarstellungen. Hier entscheidet er sich für wesentlich größere, ja monumentale Bildmaße, die er flächendeckend ausnutzt. Betrachtet man eine solche Landschaft aus der Nähe, so fällt auf, dass die Umrisse flüchtig aufgetragen und somit für unsere Augen schwer zu erfassen sind. Je größer der Abstand zum Bild wird, desto deutlicher entwickeln sich die Konturen – gleich einem Schleier, den man entfernt, erscheint der Ort konkret. Die Botschaft des Künstlers wird nun evident. Die Gesamtheit der Natur besteht aus vielen einzelnen, voneinander abhängigen Elementen. Jeglicher Eingriff kann ihre Vollkommenheit stören. So auch Rusches Bilder: will man sie erkennen, so nur mit gebührendem Abstand. Das Objekt braucht die Distanz, es ist unantastbar. Seine Winterlandschaften, fast monochrom komponiert, wirken poetisch und atmosphärisch. Förmlich von ihrem Sommerkleid befreit, umhüllt er sie mit einem kühlen, vernebelten Mantel. Wie wenn die Zeit für den Moment des Betrachtens stehen bleiben würde, schleichen sich Kälte und Stille in den Raum, bewirken einen eigenen Zauber.

Rusche ist ein bedeutender Maler, welcher die meisterhafte Fähigkeit besitzt, nicht nur ein gestorbenes Tier so darzustellen, als würde man den Verwesungsprozess riechen, sondern auch das Leben so zu malen, als würde man die Wärme, die der Körper ausstrahlt, noch fühlen können. In selbstbewusster Pose sucht eine auf dem Tisch sitzende unbekleidete junge Frau den Blickkontakt mit dem Betrachter als würde sie ihn zur Kommunikation herausfordern. Es scheint als wollte sie in uns eindringen und etwas über unsere eigene Intimität erfahren. Jedem voyeuristischen Gedanken schiebt sie einen Riegel vor, sie entkleidet selber den Betrachter. Die sie umgebenden Gegenstände, die den Raum ausstaffieren sind nur noch andeutungsweise zitiert. Ihre Formen und Funktionen bleiben erfassbar, mehr wird ihnen nicht zugebilligt. Im Mittelpunkt befindet sich der Mensch, dessen Gebärde eine ungeheuerliche Aura ausstrahlt. Man ahnt, wie das Blut in den Adern unter der transluzid wirkenden  Haut fließt. Man sieht Spuren von Blut, mit denen der Körper bespritzt ist. Dann nimmt man die Blutlache unter der Frau wahr, sie verfärbt die weiße Tischdecke. Der Griff eines Gegenstandes ragt unter dem Schenkel hervor. Der Hintergrund des Bildes ist eine rotgestrichene, mit Bildern behangene Wand. Sind hier Symbole der Fruchtbarkeit dargestellt? Oder triumphiert die starke Frau über ihre Verletzungen? Diese Fragen zu beantworten, sei dem Betrachter überlassen. Rusche bezeichnet dieses Bild als ein Stilleben.

Wie ein roter Faden zieht sich die Thematik der Vanitas-Darstellung durch Rusches künstlerisches Schaffen. Die Allegorie der Vergänglichkeit des Lebens, allen menschlichen Strebens und der Eitelkeit ist ein traditionelles Motiv, das seit der ausgehenden Gotik die Künstler inspiriert. Es gibt verschiedene, immer wieder variierte Kompositionsformen, ausgehend vom Totentanz bis zu den Blumen- und Früchtestilleben, die zur Zeit des Barock bevorzugt wurden. In der zeitgenössischen Kunst ist die Allegorie der Vanitas seltener zu finden, weil die Bildmetaphern heute nicht mehr verstanden werden. Rusche hat die malerischen Fähigkeiten und den intellektuellen Hintergrund, dieses Thema aktuell und überzeugend zu behandeln. Von der brennenden Kerze über den toten Hasen und der Nebellandschaft bis zum selbstbewussten Akt ist in allen Gemälden Rusches der Gedanke der Schönheit und Vergänglichkeit immanent. Aber die Werke sind für uns nicht vergänglich, sie werden uns überleben. Der Sammler besitzt nicht das Bild, sondern die Kunst besitzt den Menschen. Davon bin ich überzeugt.

Richard Gilgenmann