Eröffnungsrede zur Ausstellung im
Museumshof Valluhn 2002
von Gero Troike, Maler, Regisseur

Nordöstlich von Soest liegt das kleine Dorf Sieningsen, umgeben von Feldern und Wiesen, hier hat der Maler Karl Rusche sein Atelier.
An der Landstraße, die von Soest nach Weslarn führt, steht nach ungefähr 10 Kilometern, vor einer scharfen Linkskurve das Hinweisschild Sieningsen. Kommt man von Soest, muss man hier rechts abbiegen, egal, ob man mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist.
Ein Atelier, die Werkstatt eines Künstlers, ist ein besonderer Ort, im Falle von Karl Rusche der zentrale Ort seines Lebens.
Betritt man durch die links neben einem großen Tor kleinere Tür sein Atelier, kommt man erst in einen Seitenraum, in dem ein Ofen steht und Bilder lagern. Von dort gelangt man in den großen hellen Raum, das eigentliche Atelier, hier malt er.
Steht man in diesem Raum, schaut auf die Bilder, die Wände, die Gegenstände, hat man ein unsicheres Gefühl.
Auf einmal ist alles anders.
Man ist an einem Ort, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Man hätte lieber zu Fuß kommen sollen, als mit dem Auto anzureisen. Die üblichen Vorgänge wirken unangemessen: Ausschau halten nach einem Parkplatz, Motor abstellen, das Auto eventuell abschließen, die Autotür zuschlagen, ein furchtbares Geräusch.
Es wäre viel schöner oder besser gesagt richtiger gewesen, zu Fuß den Hof zu erreichen. Dann wäre man gezielt auf die kleine Tür, links neben dem Tor, zugegangen, hätte ins Fenster gesehen und geklopft.
Durch das Fenster hätte man vielleicht den Maler bei der Arbeit gesehen, wie er lacht, wenn er Farbe aufträgt, wie er laut singt, schreit und betet.
Aber vielleicht hätte man es auch nicht gewagt zu klopfen. Hier gibt es keine Klingel und kein Telefon.

Etwa 13 Kilometer von Sieningsen in südwestlicher Richtung liegt Soest. Hier wurde Karl Rusche 1961 geboren.
Nach der Schule schloss er eine Steinbildhauerlehre erfolgreich ab, arbeitete kurze Zeit als Steinbildhauergeselle, machte Zivildienst und studierte 5 Jahre lang Malerei in Braunschweig.
1990 ist das Jahr in dem Karl Rusche beginnt als freischaffender Maler zu arbeiten.
Im Winter 1992 hatte er eine große Ausstellung im Museum Abtei Liesborn, dort bin ich ihm und seinen Bildern zum ersten mal begegnet.

Um Rusche in Sieningsen zu erreichen, muss man rufen oder klopfen, wenn man mit dem Auto kommt.
Anklopfen hat etwas Geheimnisvolles.
Es gibt einen schönen Aufsatz von Thomas de Quincey:
„Über das Klopfen an der Pforte in Shakespeares Macbeth.“
Quincey schreibt (Zitat Beginn):
„Seit den Tagen meiner Kindheit hatte mich eine Stelle in Macbeth immer auf die sonderbarste Weise berührt. Es war jenes Klopfen an der Pforte, das dem Mord an Duncan folgt und das auf mich in einer Weise wirkte, die ich mir nie erklären konnte. Das Seltsame war, dass jenes Klopfen dem Mörder eine eigenartige Erhabenheit und tiefe Feierlichkeit verlieh. Aber wie auch immer ich mir die Sache verständlich zu machen suchte, konnte ich doch über viele Jahre nicht einsehen, warum es diese Wirkung hatte.“

Es ist ein Vorzug unserer Zeit, dass man große Entfernungen schnell überwinden kann. Steht man nun in Rusches Atelier und man hat, um Zeit zu sparen, sich natürlich für das Auto entschieden anstatt die letzten 10 Kilometer zu Fuß zurück zu legen, findet jetzt hier im Atelier die Klima- und Zeitumstellung statt.
Man glaubt sich in einer anderen Zeit und in einem anderen Klima, obwohl man sich auf dem gleichen Breiten- und Längengrad befindet und noch immer im gemäßigten Klima, mitten in Deutschland. Dieser Zustand ist schwer zu erklären und zu beschreiben.
Ich ahne, dass es daran liegt, dass hier in erschreckend schöner Art und Weise Normalität herrscht, und nicht durch alle Ritzen der Zeitgeist weht.
Der Maler Karl Rusche hat einen ausgeprägten Sinn für die Schönheit und Funktion von Gegenständen und er ist ein Kenner und Liebhaber von Pflanzen.
Rusche ist gebildet.
Seine Bildung hat er, so glaube ich, nicht aus Büchern, sie ist nicht angelesen, sondern erlebt.
Karl Rusche macht seine eigenen Erfahrungen mit der Welt.
Es gibt ein Bild, auf dem verschüttete Milch sein Motiv ist. Hier spürt man sein ungebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit. Die ausgelaufene Milch auf dem Tisch ist keine Katastrophe, sondern ein malerischer Impuls für ein Bild.
Oberflächlich betrachtet malt er oft Gegenstände im Zustand des Verfalls.
Ich denke sein Interesse an den Gegenständen ist so prinzipiell, dass er jeden Zustand darstellenswert findet.
Sein Credo könnte sein: “Ich male Dinge, die ich für darstellenswert halte.“

In den Bildern von Rusche gibt es keine Ironie.
Er versucht den Dingen, die er malt gerecht zu werden, er nähert sich mit Demut den Dingen, die ihn interessieren. Hier zeigt sich seine Bildung. Denn Bildung ist nicht nur eine Anhäufung von Wissen.

Wenn Rusche malt, nimmt er sich die Zeit, die er braucht, hier ist er maßlos, hier kennt er keine Verantwortung. Warum auch? es geht ja um nichts anderes.
Karl Rusche ist ein Maler, der Zeit hat, das grenzt an Anarchie.

Anklopfen wäre ein angemessener Anfang, sich der Bilderwelt von Rusche zu nähern. Schon das Klopfen an der verschlossenen Tür lohnt sich. Man hört und wartet, nach einiger Zeit sieht man durch eines der Fenster ins Atelier.
Was sieht man?
In der Glasscheibe des Fensters spiegelt sich eine Landschaft, die sich hinter mir befindet, graue Wolken, die Kontur einer Weide und Wiesen. Im Zentrum dieser schönen Landschaft sehe ich mich. Die Umrisse meines Kopfes sehr scharf konturiert, mein Gesicht unscharf aber immer noch deutlich, wie auf einem alten Foto. Jetzt füllt sich die Kontur meines Kopfes mit einem Stuhl mit halber Lehne. Auf meiner Stirn entdecke ich Farbspuren. Ich gehe noch dichter an das Glas und sehe jetzt eine Staffelei um die sich die Farbspuren auf dem Boden verdichten. Hier wurde ein Tier geschlachtet, rote Farbe, tiefes Blau, da schwebt der Kopf eines mir vertrauten Menschen, nein, es ist der Kopf einer Puppe. Bewege ich den Kopf etwas von der Scheibe zurück verschwimmt alles, der Zauberraum löst sich auf, und wieder drückt sich mein Gesicht an das Glas. Hinten links Farbpigmente, Weinflaschen, vorn auf einem Tisch direkt neben dem Fenster liegt ein Buch, es ist ein Roman von Boris Pasternak, ganz hinten an der Wand eine große dunkle Landschaft, der Mond spiegelt sich in einer Pfütze.
Hinter mir singen Vögel, irgendwo brummt ein Ventilator.

Ich steige in mein Auto, es ist ein Renault-Rapid, und fahre nach Hause. Eigentlich ganz angenehm so mit dem Auto durch die Landschaft zu fahren.
Sind Bilder von Rusche ohne Gefühl, gefühllos?
Sie haben eine Selbstverständlichkeit, die ich bewundere, eine Reinheit, die Gefühle auslösen kann. Den Weg, den er als Maler beschreitet, sollte man immer im Auge behalten.
Der Maler geht allein Schritt für Schritt.
Von Zeit zu Zeit müssen wir ihm zuwinken, Proviant reichen, manchmal ermutigen.

Gero Troike, im Juni 2002